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Die Mutter
Sri Aurobindo Ashram Trust 1974 Zweite Auflage 1992
La Dicouverte Supreme hat die Mutter 1912 in Frankreich geschrieben. Die Worte Spirit, spirituell, Spiritualität sind eingedeutscht in Spirt, spirtlich, Spirtlichkeit. Groß geschrieben werden - wie im französischen urtext - nur wörter, die vom sinn her ,,haupt"-wörter sind.
WOLLEN wir einen ganzheitlichen fortschritt machen, so müssen wir in unserem bewussten wesen eine starke und reine geistige zusammenschau begründen, die uns gegen versuchungen von außen schützen kann, einen markstein, der uns vor allen abwegen bewahrt, einen leuchtturm, der unsere bahn über den bewegten ozean des lebens erhellt. Jeder muss diese zusammenschau gemäß seinen eigenen neigungen, entsprechungen und bestrebungen gewinnen. Wollen wir aber, dass sie wirklich lebendig leuchte, so muß sie im mittelpunkt die idee enthalten, die für den verstand die sinnbildliche darstellung von Dem ist, was zutiefst in unserem wesen liegt und unser leben und unser licht ist. Diese idee ist in erhabenen worten unter verschiedenen formen von allen
1 großen lehrern in allen ländern und in jedem zeitalter verkündet worden: Das selbst jedes einzelnen und das große allumfassende Selbst sind eins. Wenn alles, was ist, in seinem kern und seiner grundlage von ewigkeit her ist, warum dann einen unterschied machen zwischen dem lebewesen und seinem ursprung, zwischen uns selbst und Dem, was wir an den anfang stellen? Die alten überlieferungen hatten recht, wenn sie sagten: „Wir und unser wesensquell, wir und unser Gott sind eins." Und diese einheit sollte nicht nur als mehr oder weniger enge und innige beziehung verstanden werden, sondern als wirkliche Identität.
2 Versucht daher der gottsucher, nach und nach zum unerreichbaren hochzuklimmen, so vergisst er, dass all sein wissen und all seine eingebung ihn in dieser unendlichkeit nicht einen schritt weiterbringen können. Er weiß nicht, dass, was er erreichen möchte und was er so fern wähnt, in ihm selbst ist. Denn wie könnte er irgend etwas über den ursprung wissen, solange er sich nicht jenes ursprungs in ihm selbst bewusst ist? Indem er sich selbst versteht, sich selbst kennenlernt, kann er die höchste entdeckung machen und staunend wie der patriarch in der Bibel ausrufen: „Hier ist das haus Gottes, und ich wußte es nicht !" Darum muß man dem erhabenen gedanken, schöpfer der stofflichen welten,
3 ausdruck verleihen, auf dass alle das wort vernehmen, das himmel und erde erfüllt: „Ich bin in jedem ding und in jedem wesen." Wenn dies alle wissen werden, dann ist der verheißene tag nahe, der tag der großen wandlungen. Erkennen die menschen in jedem atom den gedanken des innewohnenden Gottes und nehmen sie in jedem lebendigen geschöpf den entwurf einer gebärde Gottes wahr, vermag in jedem menschen sein bruder Gott zu sehen, dann wird die morgenröte geboren, welche finsternis, lüge, unwissen, fehler und schmerzen verscheucht, wovon die ganze Natur voll ist. Denn „die ganze Natur leidet und seufzt und harrt, dass die Söhne Gottes sich offenbaren." Dies ist der hauptgedanke, der in sich alle anderen zusammenfasst, und der in unserem gedächtnis stets gegenwärtig
4 sein sollte wie eine sonne, die unser ganzes leben erhellt. Darum rufe ich ihn euch heute wieder in erinnerung. Denn verfolgen wir mit diesem gedanken unseren weg, ihn im herzen tragend wie das seltenste kleinod, den wertvollsten schätz, und lassen wir zu, dass er sein werk der erleuchtung, der verklärung in uns vorantreibt, dann werden wir erkennen, dass er im kern jeden wesens und jeden dinges lebendig da ist, und in ihm werden wir diese wundervolle einheit des weitalls fühlen. Dann wird uns klar, wie nichtig und kindisch unsere armseligen befriedigungen, törichten streitereien, kleinlichen leidenschaften und blinden entrüstungen sind. Wir werden sehen, wie unsere kleinen unzulänglichkeiten dahinschmelzen, die letzten verschanzungen begrenzter persönlichkeit und dummer ichsucht
5 zerbröckeln. Wir werden uns von dem erhabenen kraftstrom wahrer spirtlichkeit fortgetragen fühlen, der uns aus den begrenzten rahmen und engen schranken heraushebt: Das einzel-ich und das All-ich sind eins; in jeder welt, jedem wesen, jedem ding, jedem atom ist die göttliche Gegenwart, und es ist des menschen sendung, sie zu offenbaren. Dazu muß er sich der göttlichen Gegenwart im eigenen innern bewusst werden. Um dahin zu gelangen, müssen manche eine richtige lehrzeit durchmachen: ihr wesen ist zu ichbezogen, zu verfestigt und konservativ, und der kämpf dagegen ist lang und schmerzhaft. Andere jedoch, die unpersönlicher, plastischer und beseelter sind, kommen leicht mit dem unerschöpflich göttlichen quell ihres wesen in berührung. Doch auch diese — vergessen wir das
6 nicht —- müssen sich täglich einer stetig ausgerichteten arbeit der anpassung und umwandlung unterziehen, so dass nichts in ihnen wiederkehre, das strahlen dieses lauteren lichts zu verdunkeln. Aber wie sehr verändert sich der blickwinkel, sobald man dies tiefere bewusstsein erlangt hat ! Wie sehr weitet sich das verständnis, wie wächst das wohlwollen ! Dazu hat ein weiser gesagt: „Ich möchte, dass ein jeder von uns dahin gelangt, wo er den inneren Gott wahrnehmen kann, der auch im verdorbensten menschen wohnt. Statt diesen zu verdammen, sollten wir sagen: ,Steige auf, du strahlendes Wesen, das für immer rein ist und weder geburt noch tod kennt, steige auf, du Allvermögendes, und offenbare deine natur!' " Folgen wir diesem schönen rat, und wir werden sehen, wie alles um uns sich
7 wie durch ein wunder verwandelt. So verhält sich wahre, bewusste und klarsichtige liebe, jene liebe, die hinter die erscheinungen zu blicken und trotz der worte zu verstehen weiß, liebe, die durch alle hindernisse hindurch dauernd mit den tiefen in verbindung steht. Was wiegen unsere impulse und begierden, ängste und gewalttätigkeiten, unsere leiden und kämpfe, all diese persönlichen wechselfälle, die unsere ungeordnete einbildungskraft ungebührlich dramatisiert — was wiegen sie gegen diese große, erhabene, göttliche liebe, die sich aus der innersten tiefe unseres wesens über uns neigt und uns die schwächen nachsieht, die irrtümer berichtigt, die wunden heilt und unser ganzes wesen in ihren neubelebenden fluten badet? Denn die Gottheit im innern drängt
8 sich niemals auf, stellt nie einen anspruch, droht nie; sie bietet sich dar, sie gibt sich selbst, verbirgt und vergisst sich im herzen der wesen und dinge; sie tadelt keinen, urteilt, verwünscht und verdammt nie, sondern arbeitet unaufhörlich daran, ohne zwang zu vervollkommnen, ohne vorwurf wiedergutzumachen, ohne ungeduld zu ermutigen und jedermann mit all den schätzen zu bereichern, die er empfangen kann; sie ist die mutter, deren liebe gebiert und nährt, wacht und schützt, rät und tröstet; weil sie alles versteht, erträgt sie alles, entschuldigt und verzeiht alles, erhofft alles, bereitet alles vor. Weil sie alles in sich trägt, hat sie nichts, was nicht allen gehört, und weil sie über alle regiert, ist sie dienerin von allen; darum werden alle, ob groß oder klein, die mit ihr könige und in ihr götter sein möchten, gleich ihr keine despoten, sondern diener unter ihren brüdern.
9 Wie schön ist diese demütige rolle des dieners, diese rolle all derer, die offenbarer und künder des Gottes waren, der in allen ist, der göttlichen Liebe, die alle dinge beseelt... Und bis wir ihrem beispiel folgen und wie sie wahre diener sein können, lasst uns von dieser göttlichen Liebe durchdrungen und gewandelt werden, und stellen wir Ihr rückhaltlos dies wundervolle werkzeug unseres stofflichen organismus zur verfügung ! Sie wird es auf jeder ebene des wirkens sein bestes leisten lassen. Um zu dieser umfassenden weihung unserer selbst zu gelangen, sind alle mittel gut, haben alle methoden ihren wert. Auszuharren im willen, das ziel zu erreichen, ist das einzige wirklich unerlässliche. Dann werden alle studien, in die man sich vertieft, alle taten, die man vollbringt, alle menschen, denen man
10 begegnet, uns einen hinweis, eine hilfe, ein licht bringen, die uns weiterführen auf dem weg. Bevor ich ende, will ich noch einiges für jene hinzufügen, die schon manchen scheinbar fruchtlosen versuch unternommen haben, für jene, die schon mit den schlingen auf dem weg bekanntschaft gemacht und ihre eigene schwachheit ausgelotet haben, für jene, die gefahr laufen, mut und zuversicht zu verlieren. Um im herzen der leiderfüllten wieder hoffnung zu wecken, wurden diese seiten von einem spirtlichen arbeiter zu einer zeit geschrieben, da alle prüfungen ihn wie läuternde flammen überfielen: Die ihr müde und geschwächt und niedergeschlagen seid, die ihr fallt und euch vielleicht für besiegt haltet, vernehmt die stimme eines freundes—er kennt eure sorgen, er hat sie geteilt; er
11 hat wie ihr an den übeln der erde gelitten, hat wie ihr unter des tages last wüsten durchquert, hunger und durst, einsamkeit und verlassenheit gekannt und, am grausamsten von allem, die bittere not des herzens. Ach, auch stunden des zweifeis hat er gekannt, hat irrtum, misslingen, versagen und alle schwächen erfahren. Aber er sagt euch: mut ! Vernehmt die lehre, die die aufgehende sonne mit ihren ersten strahlen allmorgendlich der erde bringt. Es ist eine lehre der hoffnung, eine botschaft des trostes. Die ihr weint, die ihr leidet, die ihr zittert und nicht wagt, das ende eures elends, den ausgang eurer leiden abzusehen, merkt auf: es gibt keine nacht ohne tagesanbruch, und wenn die finsternis am dichtesten ist, steht die morgendämmerung bevor; keinen nebel gibt es, den die sonne nicht zerteilt, keine wolke,
12 die sie nicht vergoldet, keine tränen, die sie nicht eines tages trocknet, keinen sturm, nach dem nicht ihr triumphbogen leuchtet, keinen schnee, den sie nicht schmilzt, keinen winter, den sie nicht in strahlenden Frühling verwandelt. Und auch für euch gibt es keinen kummer, der nicht sein maß an glück hervorbringt, keine niedergeschlagenheit, die sich nicht in freude verwandeln mag, keine niederlage, die nicht in einen sieg, keinen fall, der nicht in einen aufstieg zu größeren höhen sich wenden lässt, keine einsamkeit, die nicht zum vollsten leben werden kann, keinen missklang, der nicht in harmonie aufzulösen ist. Manchmal bringt gerade ein missverständnis zweier geister ihre herzen dazu, sich einander in tiefer übereinstimmung zu öffnen. Kurz: keine schwäche ist so grenzenlos, dass sie sich nicht in kraft umsetzen könnte. Ja, der allmacht gefällt es sogar, sich in der
13 allergrößten schwachheit zu offenbaren ! Höre, mein kleines kind, das du dir so gebrochen, so gefallen vorkommst und nichts, gar nichts mehr hast, um dein elend zu verdecken und deinen stolz zu nähren—niemals zuvor bist du so groß gewesen ! Wie nahe ist den gipfeln, wer in den tiefen erwacht: je tiefer der abgrund, desto mehr enthüllen sich auch die höhen. Weißt du nicht, dass die erhabensten kräfte der kosmischen weiten sich die allerundurchsichtigsten materienschleier zur kleidung suchen ? O glänzende hochzeit der höchsten liebe mit ihren dunkelsten formbarkeiten, des verlangens der finsternis mit dem königlichsten licht ! Haben prüfungen und fehler dich niedergeworfen, bist du in einen abgrund des unglücks gesunken, so härme dich nicht, denn da werden dich die göttliche
14 zärtlichkeit und die höchste segnung erreichen ! Weil du durch einen schmelztiegel läuternder leiden gegangen bist, erwarten dich die glorreichen aufstiege. Du bist in der wüste: wohlan, lausche den stimmen des schweigens. Der klang schönrednerischer sprüche und äußeren beifalls hat dein ohr erfreut, aber die stimmen des schweigens werden deine seele beglücken und in dir den widerhall der tiefen wecken, den gesang der göttlichen harmonien ! Du wanderst in tiefer nacht: wohlan, sammle da die unermesslichen schätze der finsternis. Sonnenschein erhellt die wege des verstandes, aber in der nacht mit ihren, weißen helligkeiten liegen die verborgenen pfade der vollendung, das geheimnis spirtlichen reichtums. Du gehst den weg der entsagungen: er
15 führt zur fülle. Wenn dir nichts mehr bleibt, wird dir alles gegeben. Denn wer aufrichtig und gerade ist, dem erwächst aus dem schlimmsten immer das beste. Jedes in die erde gesenkte körn bringt tausend hervor. Jeder flügelschlag des schmerzes kann ein aufschwung zur herrlichkeit sein. Und wenn der widersacher gegen den menschen wütet, macht diesen alles zu seiner vernichtung unternommene nur größer. Vernimm die geschichte der weiten, sieh, wie der große feind zu triumphieren scheint ! Er wirft die geschöpfe des lichts in die nacht, und die nacht füllt sich mit sternen. Er tobt mit wachsender wut gegen das kosmische werk, greift die unversehrtheit des reichs der ursphäre an, erschüttert seine harmonie, teilt und unterteilt es,
16 streut seinen staub in die vier winde der unendlichkeit, und siehe da, der staub verwandelt sich in goldene saat, die das unendliche befruchtet und es mit welten bevölkert, die von nun an ihren ewigen mittelpunkt in größeren bahnen des raumes umkreisen werden. So bringt teilung selbst eine reichere und größere einheit hervor, und indem sie die oberflächen des stofflichen alls vervielfacht, erweitert sie das reich, das sie zerstören wollte. Schön, ohne zweifei, war der gesang der ursprünglichen sphäre, im schoss der unermesslichkeit gewiegt. Aber wieviel schöner und triumphaler ist die sinfonie der konstellationen, die musik der sphären, der unermessliche choral, der die himmel mit ewiger siegeshymne erfüllt ! Höre weiter: Kein zustand war je gefährdeter als der des menschen, als er auf
17 erden von seinem göttlichen ursprung abgetrennt war. Über ihm erstreckte sich die feindliche front des usurpators, und an den pforten seines horizonts wachten kerkermeister, mit flammenden schwertern bewaffnet. Weil er nicht mehr zum quell des lebens emporsteigen konnte, sprang der quell in seinem inneren auf; weil er nicht mehr das licht von oben empfangen konnte, schien das licht im kern seines wesens auf; weil er nicht mehr mit der jenseitigen liebe gemeinschaft haben konnte, brachte die liebe sich selbst zum opfer und erkor jedes irdische wesen, jedes menschliche selbst zu ihrer wohnstatt und ihrem heiligtum. In dieser verachteten und dennoch fruchtbaren, elenden und dennoch gesegneten materie beherbergt daher jedes atom einen göttlichen gedanken, trägt jedes wesen in sich den Göttlichen Bewohner; und ist auch im ganzen weltall
18 nichts so zerbrechlich wie der mensch, so ist gleichermaßen nichts so göttlich wie er ! Wahrlich, in der demütigung liegt die wiege der herrlichkeit ! 28 april 1912 19
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